Thomas Barnado Teil 21
Das Abendessen im Kinderdorf verläuft nicht ganz so still wie in einem Seniorenheim. Wenn lebhafte Kinder aller Altersstufen ihre Tageserlebnisse mitteilen, geht’s ganz schön rund. Die kleine Maya schaut mit glänzenden Augen in die Runde und versucht, möglichst viel mitzukriegen. Am meisten fasziniert sie aber die große Eisenbahn, die mitten auf dem runden Esstisch fährt. Das ist eine Attraktion für besondere Tage. Die Kleine erlebt es zum ersten Mal, dass Erwachsene und Kinder in einen der Wagen greifen, um Brot oder Belag ihrer Wahl aus dem langsam fahrenden Zug zu nehmen. Sie staunt und vergisst beinahe, sich rechtzeitig zu bedienen. Aber was macht das schon?
Dann passt sie bei der nächsten Runde besser auf, es gibt doch soviel zu bestaunen.
„Eins versteh ich nicht“, wendet sich Pascal an die Hausmutter Susa.
„Und das wäre?“, fragt Susa. Sie freut sich, dass der zurückhaltende Pascal in letzter Zeit immer mehr auftaut und sich an den Gesprächen beteiligt.
„Weißt du, es geht noch mal um unser Barnardo-Thema. Hast du mitgekriegt, dass immer von einem Jungenheim die Rede ist? Hatte der was gegen Mädchen? Was wurde denn aus denen??“
„Nein, Barnardo hatte überhaupt nichts gegen Mädchen. Ihr Schicksal lag ihm ganz genauso am Herzen! Aber wie sollte er alles auf einmal schaffen? Denk doch mal: Platz für so viele Kinder, Geld für Lebensmittel, Kleidung, genügend Mitarbeiter und und und... es war schon ungeheuer viel, was der Mann alles auf die Beine stellte.
Allerdings fiel es ihm immer wieder aufs Herz, dass auch die Mädchen dringend Hilfe brauchten. Um ihnen zu helfen, waren auch wieder ganz andere Dinge wichtig, von denen eine Frau mehr verstand als er. Du weißt, dass wir im Kinderdorf grundsätzlich in jedem Haus ein Paar haben, ein Mann und eine Frau als Hauseltern. Das hat schon gute Gründe.
Aber damals in England – ihr müsst euch vorstellen, dass Barnardos Heimidee überhaupt total revolutionär war. Ihr habt ja gehört, dass die feinere Gesellschaft keine Ahnung hatte von den obdachlosen Kindern, genau wie heute kaum jemand wirklich informiert ist über soziale Not.
Noch lange Zeit nach Barnardos boys homes waren getrennte Jungen- und Mädchenheime völlig normal, auch in Deutschland. Nach dem 2. Weltkrieg kam Dr. Andreas Mehringer als Direktor an das bekannte Münchner Waisenhaus. Waisen, ihr wisst, was ich meine?
Richtig, elternlose Kinder. Dr. Mehringer hatte während seines Studiums grässliche Missstände im Waisenhaus erlebt. Da gings zu wie in der Kaserne mit eisernem Drill. Alle Kinder trugen einheitliche ‚Anstaltskleidung’. Sie schliefen in großen Schlafsälen und hatten nichts zu Lachen. Die Erzieher hatte strenge Anweisung, vor allem auf Disziplin zu achten und bestraften die Kinder durch Schläge mit dem Stock, grausam.
Unter diesen Zuständen hatte der junge Mitarbeiter sehr gelitten und ging voller guter Ideen ans Werk, als er Heimleiter wurde. Sein Mitgefühl und sein Wissen bewirkten, dass er das Los der Waisenkinder sehr verbesserte. Anstelle der langen Flure und großen Schlaf- sowie Esssäle baute man kleine abgeschlossene Wohnungen. Hier lebte eine Gruppe ähnlich wie eine Familie: nicht 30 Gleichaltrige, sondern etwa 10 Kinder vom Baby bis zum Jugendlichen mit ihrer Erzieherin.“
„Hast du da mal gewohnt oder woher weißt du das alles so genau?“
„Ich war mal in München, die Straße, wo die Einrichtung liegt, heißt immer noch Waisenhausstraße, und wir hatten das Glück, vom alten Herrn Dr. Mehringer geführt zu werden. Unglaublich, wie lebendig er uns alles erklärte. Das war besser als viele Unterrichtsstunden zu diesem Thema.“
„Seh ich genauso. Am liebsten würde ich mal nach England fahren und alle Orte ansehen, an denen Thomas Barnardo gelebt und gearbeitet hat.“
Susa zuckt mit den Schultern: „Warum nicht? Warten wir’s ab. – Aber hast du eigentlich eine Ahnung, wie spät es ist?“
Der Gongschlag der Wanduhr beantwortet die nicht ganz ernst gemeinte Frage und erinnerte die Kinder daran, dass es höchste Zeit wurde zum Schlafengehen.
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Danke an Erika Demant und den CSV-Verlag für die Genehmigung zur Veröffentlichung.
Danke an Gunther Werner für die Bearbeitung.